Schielen - nur ein Schönheitsfehler ?
 

Unbehandelt bekommen 80 bis 90% aller Patienten infolge des Schielens eine Schwachsichtigkeit (Amblyopie). Nicht zu unter-
schätzen sind aber auch die psychischen Auswirkungen.

Zum Thema Schielen, seinen Behandlungsmöglichkeiten und Erfolgsaussichten sprach das TOP Magazin mit dem Facharzt
für Augenheilkunde Dr. med. Gorzny von der Augen & Laserklinik Koblenz.

TOP: Herr Dr. Gorzny, soll das Fragezeichen in der Überschrift stehen bleiben ?

Dr. Gorzny: Ganz sicher. Abgesehen davon, dass das Schielen zu den auffälligsten Schönheitsfehlern zählt, weil wir stets mit unseren Mitmenschen in Augenkontakt treten und diese Fehlstellung sofort bemerkt wird und andererseits sich der Schieler sofort entdeckt fühlt und mit unsteten Blickbewegungen antwortet, stehen dahinter auch schwere Funktionseinschränkungen mit lebenslangen Auswirkungen und weitreichenden Folgen.

TOP: An welche Folgen denken Sie dabei ?

Dr. Gorzny: Grundsätzlich fehlt dem Schieler die Qualität des beidäugigen Sehens mit erheblichen Einschränkungen im beruflichen Leben und auch im Straßenverkehr. Zusätzlich ist häufig die Sehschärfe des schielenden Auges herabgesetzt, manchmal bis zum völligen Funktionsverlust, also praktisch bis zur Blindheit auf diesem Auge.

TOP: Welche Berufe entfallen denn für einen Schieler ?

Dr. Gorzny:  Allen Berufskraftfahrern, vom LKW- und Taxifahrer bis hin zum Kapitän, Lokführer oder Piloten wird die Qualität der Stereopsis abverlangt, da ist der Schieler also außen vor. Aber auch andere Tätigkeiten, wie Arbeiten am Bildschirm, einige handwerkliche Berufe oder auch zum Beispiel Operateur, haben ohne Stereosehen große Probleme und werden deshalb zu diesen Berufen meist gar nicht erst zugelassen.  

TOP: Wie können Sie als Augenarzt denn Schielen verhindern oder heilen ?

Dr. Gorzny: Damit müssen wir möglichst im Säuglings- oder Kleinkindalter beginnen - der Berufsverband der Augenärzte und die Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft fordern seit über 35 Jahren vom Gesetzgeber die obligatorische Untersuchung der Säuglinge und Kleinkinder durch Augenärzte - leider ohne Erfolg.

Die Krankenkassen lehnen diese Forderung mit der Begründung zu hoher Kosten ab und schieben die Verantwortung den dafür nicht ausgebildeten Kinderärzten zu. Ein folgenschwerer Fehler.

TOP: Warum ?

Dr. Gorzny:  Sie sollen vor allem wenn stärkere Fehlsichtigkeiten und Schielen innerhalb der Familie bekannt sind auf jeden Fall im Kleinkindalter ihren Augenarzt bitten, eine objektive Messung der Brechkraft der Augen ihrer Kinder unter medikamentöser Pupillenerweiterung durchzuführen, damit eine Fehlsichtigkeit möglichst frühzeitig erkannt und korrigiert werden kann.

TOP: In welchem Alter sollen die Eltern ihre Kinder untersuchen lassen ?

Dr. Gorzny: Ich führe diese Untersuchung am liebsten im 1.Lebensjahr durch, weil die Kinder in dieser Altersstufe noch keine nennenswerten Abwehrhaltungen einnehmen, sondern neugierig den Untersucher betrachten. Danach wird die Untersuchung oft schwierig, weil sich die Kinder wehren und die Augen zukneifen. Erst wieder ab dem 3. oder 4 Lebensjahr sind dann zuverlässige Angaben über die Sehschärfe und eventuelle Störungen des beidäugigen Sehens zu erhalten.

TOP: Bekommen dann alle Kinder eine Brille ?

Dr. Gorzny: Nein, nur bei sicher diagnostiziertem Schielen, oder wenn die Weitsichtigkeit wesentlich höher als 3 Dioptrien ist, da dann ein Schielen, vor allem bei belasteten Familien, wahrscheinlich auftreten wird.

TOP: Wird das Schielen dann durch die Brille geheilt ?

Dr. Gorzny: In einigen Fällen ja, wenn die Brille früh genug verordnet wird. Hat sich aber erst einmal ein einseitiges Schielen entwickelt, mit einem Führungsauge und einem schwachsichtigen Schielauge, dann muss zur Brille zusätzlich das führende Auge durch Okklusion oder medikamentösen Pupillenerweiterung (Penalisation) so lange ausgeschaltet werden, bis ein Gleichstand der Sehkraft beider Augen erreicht ist.

TOP: Ist das Schielen damit geheilt ?

Dr. Gorzny: Nein, leider noch nicht, denn jetzt muss der Schielwinkel noch mit Prismengläsern ausgeglichen werden, bis sich ein beidäugiges Gleichgewicht eingestellt hat. Der so bestimmte Schielwinkel wird durch eine Augenmuskeloperation beseitigt.

 


Ute B., 23, vor der OP

TOP: Wie läuft diese Operation ab ?

Dr. Gorzny:  Kinder werden immer in Vollnarkose, Erwachsene auch schon einmal in Lokalanästhesie an zwei Augenmuskeln operiert  (Rücklagerung des Muskels  = Verlängerung, Faltung oder Resektion des Muskels = Verkürzung). Auf diese Weise kann das Auge in die gewünschte Richtung gedreht werden.
Ute B., mit Prismenbrille
 
20 Prismen dpt

TOP: Ab welchem Alter kann operiert werden ?

Dr. Gorzny: So früh wie möglich, d.h. etwa ab dem 3. Lebensjahr, wenn die Kinder in der Lage sind, vernünftige Angaben zu machen. Die Behandlung ist mit der Operation nicht beendet, da durchaus erneut Verschlechterungen hinsichtlich der Sehschärfe und der Funktion des beidäugigen Sehens eintreten können.
Ute B., ein Tag nach der
Schieloperation

TOP: Bis zu welchem Alter ?

Dr. Gorzny: Die Entwicklung dürfte etwa mit dem 10./11. Lebensjahr abgeschlossen sein. So lange müssen also die Befunde fachärztlich überprüft werden, um etwaigen Schaden von den Heranwachsenden fernzuhalten.

TOP: Es gibt aber auch noch erwachsene Schieler, was geschieht mit denen ?

Dr. Gorzny:  Da sprechen Sie ein großes Problem an. An sich ist eine Schieloperation beim Erwachsenen leichter durchzuführen als bei einem Kind wegen der größeren anatomischen Verhältnisse. Da sich aber das Gehirn des Erwachsenen fest auf den bestehenden Sinneseindruck des schielenden Augenpaares eingestellt hat, könnten operative Änderungen der Augenstellung sehr störende Doppelbilder hervorrufen.

TOP: Bedeutet das, dass erwachsene Schieler nicht mehr behandelt werden können ?

Dr. Gorzny:  In einzelnen Fällen leider ja. Häufig lässt sich jedoch das Gehirn durch das Tragen von Prismengläsern allmählich an den Zustand einer normalen Augenstellung gewöhnen, ohne dass Doppelbilder gesehen werden, so dass wir dann doch - auch beim Erwachsenen - die störende Schielstellung beseitigen und teilweise sogar in Glücksfällen das Stereosehen wiederherstellen können, wie unser abgebildetes Beispiel zeigt.

TOP: Herr Dr. Gorzny, wir bedanken uns für dieses Interview.

(TOP-Magazin, Ausgabe 4, Winter 2001; Das Gespräch führte Harald Watterich, Herausgeber und Verleger des TOP-Magazins)